Michael Fehr

herman de vries: ARTIFEX ARBORIS INVERSAE*

 

I. "zerfällt die welt in tatsachen?"[1]

"Die Natur hat ihre Einfachheit und Wahrheit, die man sich wohl hüten muß zu zerstören. Nur ihr darf man folgen in der Wahl der möglichen Mittel." Dieser Satz stammt nicht, wie man vermuten könnte, von einem Philosophen des Mittelalters, sondern ist in einem Brief aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts zu lesen, mit dem Jean Louis M. Daguerre seinen entmutigten Mitstreiter Joseph Nicéphore Niépce davon abbringen wollte, die wenig zufriedenstellenden Ergebnisse seiner Erfindung, der Heliogravure, durch manuelle Nachbearbeitung zu verbessern: "Wenn aber die Kunst eines Graveurs nicht sollte entbehrt werden können", schrieb Daguerre weiter, "dann verlöre die Erfindung jegliches Interesse," und definierte damit exakt das entscheidende Moment, durch das sich das fotografische Verfahren, an dem die beiden Erfinder arbeiteten, grundlegend von der künstlerischen Praxis und ihrer jahrhundertelangen Tradition unterscheiden und sie zugleich, zumindest im Hinblick auf eine ihrer Zielsetzungen, einlösen sollte. Denn als ein effektives bildgebendes Verfahren ermöglichte die Fotografie nicht nur eine objektivierte, im Kern vom Menschen unabhängige unbeeinflußbare Darstellung der Natur, sondern ließ sie darüber hinaus diese objektivierten Bilder in eine Materie übertragen, zu deren spezifischen Eigenschaften eine prinzipiell nicht nur den Moment, sondern die Zeiten überdauernde Beständigkeit gehörte.

Allerdings wurde schon bald nach der Veröffentlichung des fotografischen Verfahrens im Jahre 1839 erkannt und bemängelt, daß sich mit seiner Hilfe nur das Äußere: die akzidentielle Erscheinung der Natur reproduzieren ließ, daß also die fotografischen Bilder nicht die Bedeutung des Aufgenommenen wiedergeben konnten, sondern diese hinzugewußt und durch die Erklärung des Aufnahmeverfahrens plausibel gemacht werden mußte. Rund einhundert Jahre später, mit den Worten von Siegfried Kracauer gesagt: "Damit sich die Geschichte darstelle, muß der bloße Oberflächenzusammenhang zerstört werden, den die Fotografie bietet. Denn im Kunstwerk wird die Bedeutung eines Gegenstandes zur Raumerscheinung, während in der Fotografie die Raumerscheinung seine Bedeutung ist. Beide Raumerscheinungen, die ‚natürliche‘ und die des erkannten Gegenstandes decken sich nicht. Indem das Kunstwerk jene um dieser Willen aufhebt, vereint es zugleich die von der Fotografie erzielte Ähnlichkeit. Sie bezieht sich auf das Aussehen des Gegenstandes, das nicht ohne weiteres verrät, wie er der Erkenntnis sich zeigt ... ."[2]

 

Daher war die ursprüngliche Befürchtung der Künstler, die Anwendung und Verbreitung des fotografischen Verfahrens würde sie brotlos machen, nicht nur grundlos, sondern ausgesprochen falsch. Denn gerade weil die Fotografie eine zwar perfekte, doch ausschließlich mimetische Reproduktion der Natur ermöglichte, erschienen die interpretativen Eigenschaften und Möglichkeiten der künstlerischen Arbeit in einem neuen Licht, und erlebte insbesondere die Malerei, insoweit sie sich durch die Fotografie vom mimetischen Abbildungsgebot befreit sah, eine neue, bis heute andauernde Blüte. Diese wurde zunächst in einer Thematisierung der Schwächen des fotografischen Verfahrens (Farbe, Bildgröße, Kontingenz der Motive), dann aber in einer Hinwendung zu Abstraktion und Emotion und schließlich in der Erfindung von Bildwelten, also in einer Abwendung von der Natur, und, nicht zuletzt, in einer Reflexion des Wahrnehmungsaktes selbst manifest. Wenn mithin vor allem die Malerei gerade aufgrund der Erfindung der Fotografie einen neuen Bedeutungsschub erhielt, so bestand bis heute, also auch unter den Bedingungen einer entwickelten Mediengesellschaft, kein ernsthafter Anlaß, die traditionelle Zielsetzung der Bildenden Künste: über die knechtische Wiedergabe der Wirklichkeit hinaus deren Wesen und Bedeutung zur Anschauung zu bringen, im Grundsatz zu bezweifeln oder grundlegend zu bestreiten. Und wenn diese Entwicklung auch zu einer hochgradigen Spezialisierung der Künstler auf bestimmte, eng umrissene Arbeitsfelder führte, so blieb die künstlerische Arbeitsweise dennoch im Kern der des mittelalterlichen artifex verpflichtet, tritt also der Künstler immer noch in Haltung und Habitus als derjenige auf, der aufgrund der prinzipiellen Bedürftigkeit des Menschen, ähnlich wie ein Handwerker oder Techniker, etwas herstellt, das die Natur verbessern, vervollständigen oder verändern kann: als jemand, der nicht die Formen, sondern das Vorgehen der Natur nachahmt und insoweit erfindet und neu erschafft.[3]

Vom mittelalterlichen artifex unterscheidet sich der typische Künstler moderner Prägung allerdings grundsätzlich durch seine Haltung gegenüber der Natur: Er akzeptiert eben nicht mehr ihr Primat als göttliche Schöpfung und bescheidet sich nicht mehr in ‚ontologischer Demut‘ (Umberto Eco) ihr gegenüber, sondern sieht in der künstlerischen Tätigkeit vor allem eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung, die um so ungehemmter ausgeübt und ausgelebt werden kann, als von ihr als ‚nutzloser‘, sprich: freier ars - im Unterschied zu der ars der Handwerker und Techniker - keine unmittelbaren und womöglich schädlichen Eingriffe oder Rückwirkungen auf die Natur befürchtet werden müssen[4]. Doch ist der moderne Künstler in dieser Rolle: als ein Erfindungen und Entwicklungen um ihrer selbst Willen betreibender, mehr oder weniger unreflektierter Macher, das ideologisch verwertbare Beispiel und der praktische Vorreiter für jene artifici, die als Techniker und Wissenschaftler mit der Natur nach den Maximen der instrumentellen Vernunft verfahren und sie in ihrer Substanz mit den bekannten Folgen zu verändern und zu überbieten versuchen.

Vor diesem Hintergrund ist hermans Tätigkeit zu sehen. Er ist weder ein Künstler im üblichen zeitgenössischen noch ein artifex im althergebrachten Sinn des Begriffs und stellt, zumindest im Sinne des Erfindens oder Erschaffens, eigentlich nichts her. Seine Arbeit konzentriert sich vielmehr darauf, den circulus viciosus des instrumentellen Denkens zu durchbrechen, in dem wir befangen uns einen fundamentalen Wirklichkeitsverlust eingehandelt haben. Gegen diesen Wirklichkeitsverlust setzt herman sein Wissen und seine Kunst, sein "gestalten als wiedergabe einer wirklichkeit, die immer schon bestanden hat": arbeitet er als Wissenschaftler und Künstler, machte sich, ähnlich wie John Cage, sozusagen schwer und wurde so zu einer Art Schwarzes Loch im Kunstbetrieb, nahm jedoch dabei immer nur seine,von ihm schon 1961 formulierte Zero-Position ein: "zero; alles ist einheit, alles geschieht stillstehend, es gibt keine gegensätze." "zero ist kein ausgangspunkt, sondern ein existenz niveau."[5]

 

II. "ist die form die möglichkeit der struktur?"[6]

"Dieser Stein und jener Holzklotz sind mir ein Licht. Und fragst Du mich, wie dies zu verstehen ist, dann mahnt mich die Vernunft, Dir zu antworten, daß mir beim Betrachten dieses oder jenes Steines vieles einfällt, was meine Seele erleuchtet. Ich bemerke nämlich, daß er wesenhaft gut ist und auf seine eigene Art schön, durch seine Verschiedenheit in Gattung und Art von den übrigen Gattungen und Arten abweicht, durch seine Zahl, durch die jedes Ding als Einheit bestimmt wird, nicht aus seiner Ordnung heraustritt und nach der Beschaffenheit seiner Schwester seinem natürlichen Platz zustrebt. Wenn ich nun beim Betrachten dieses Steins diese und ähnliche Betrachtungen anstelle, dann werden mir diese zum Licht, das heißt, sie erleuchten mich." [7]

 

Als Konsequenz dieser von Johannes Scotus Eriugena im 9. Jahrhundert entwickelten Theorie sah man im frühen Mittelalter die Aufgabe des Künstlers darin, diese dem Stein oder dem Holzklotz innewohnenden universellen und individuellen Eigenschaften, ‘das Licht’ zur Anschauung zu bringen: Indem er den Stein oder Holzklotz durch seine Bearbeitung oder durch die Übertragung seines Bildes in eine andere Materie von allen zufälligen Gegebenheiten, dem Akzidentiellen, befreite und so das Wesen dieser Materie zur Geltung brachte, konnte er die Eigenschaften, die der Geist bei der Betrachtung des Steines oder Holzklotzes abstrahiert: die ihnen innewohnende Güte und Schönheit, unmittelbar anschaulich machen. Daher auch hielt man, zumindest in dieser Hinsicht, die Handlungen eines artifex für vergleichbar mit denen eines Philosophen, und erkannte man den wesentliche Unterschied zwischen ihnen darin, daß der eine diese Eigenschaften diskursiv zu beweisen suchte, während sie der andere der Anschauung zeigte (und damit ‘das Licht’ auch dem ungebildeten Laien zugänglich machen konnte).

 

Man ist leicht versucht, aufgrund einer solchen Theorie in herman eine Art modernen mittelalterlichen Künstler am Werke zu sehen, wenn er uns Holzstücke, Äste, Blätter, Samen und Erdproben vor Augen stellt - nicht zuletzt auch deshalb, weil er zum Beispiel in seinem ‘notizbuch 0: 1956 - 57’ unter dem Datum 3. März 1957 schrieb: "ich glaube, ich kann jetzt kunst definieren: kunst ist philosophische betrachtung in bildender form."[8]

 

Doch greift eine solche Interpretation zu kurz [9]. Denn ganz abgesehen davon, daß herman in manchen seiner Werke gar nichts zeigt, in jedem Fall aber den Stein oder den Holzklotz, von denen Scotus spricht, niemals bearbeiten, sondern allenfalls aus seiner Umgebung isolieren und herausheben würde, ist es ihm eben nicht, wie Scotus, um Kunst als Anlaß und Basis für eine intelligible Erfassung der Wirklichkeit zu tun, sondern um deren konkrete Wahrnehmung in der modernen und künstlerischen Definition des Begriffs. Mit anderen Worten gesagt: herman nimmt zwar eine Haltung gegenüber der Natur oder, allgemeiner gesagt, gegenüber der Wirklichkeit ein, die der entspricht, die in Scotus Sätzen zum Ausdruck kommt, doch stellt er, ganz anders als dieser, die wesenhaften oder objektiven Eigenschaften der Natur, ihre intelligible oder abstrakte, nur dem Geist zugängliche Schönheit eben nicht über deren akzidentielle oder konkrete Erscheinung. Herman ist vielmehr an der Natur interessiert, wie sie ist, wie sie sich ihm zeigt, und wie er sie erfährt: "i only present (natural materials). i have nothing to add, nothing to change, only to respect - because of the revelatory character of everything in the natural world. here i find my identity."[10]

 

Wie weit herman sich mit dieser Haltung, die er hier ohne viel Aufhebens (in Kritik von Künstlern, die mit Natur als Material arbeiten) zum Ausdruck bringt, von künstlerischen Positionen unserer Zeit entfernt hat, kann deutlich werden, wenn man sie auf das Werk eines anderen großen Holländers bezieht: auf Piet Mondrians Werk, das einerseits als eine Art Urmeter für die künstlerische Moderne gelten kann, doch andererseits tief in der abendländischen Kunsttradition wurzelt und sie zu erneuern versuchte. Denn hermans künstlerische Position erscheint als eine regelrechte Umkehrung von Piet Mondrians Neo-Plastizismus, und zwar nicht nur insoweit, als sich dessen theoretische Annahmen als eine Radikalisierung der Theorie von Scotus auffassen lassen, sondern weil Mondrian seine theoretischen Annahmen (wohl nicht zufällig, wenn vermutlich auch nicht bewußt) aus der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Baum, einem arbor explicata gewann.[11] Schrieb Mondrian 1917/1918: "Das Leben des heutigen Kulturmenschen wendet sich mehr und mehr vom Natürlichen ab; es wird immer mehr abstraktes Leben," und zog er daraus den Schluß: "Der wahrhaft moderne Künstler wählt die Abstraktion der Schönheitsempfindung bewußt: er erkennt bewußt, daß die Schönheitsempfindung kosmisch, universal ist," um schließlich Kunst "als das Produkt eines kultivierten Äußerlichen und eines vertieften, bewußten Innerlichen - als reine Gestaltung des menschlichen Geistes ..." zu definieren,[12] so ist hermans Position "zero", der nur denkbare Gegenpol zu diesem Programm.[13] Denn, so herman: "... abstraktion hat für mich nur dann einen Wert, wenn diese wieder zurückfällt auf die irdische wirklichkeit. mit anderen worten, wenn sie beiträgt zum verhältnis mit uns selbst und zu demjenigen, worin wir leben (oder leben können) ... .[14]

Dies gilt auch mit Bezug auf den Elementarismus von Theo van Doesburg, der als "Konsequenz" und "Richtigstellung" des Neo-Plastizismus forderte, dessen "homogene, orthogonale Gestaltungsweise" durch eine "heterogene, konstrastierende, labile Ausdrucksweise" zu ersetzen und hierin "die reinste und zugleich unmittelbarste Ausdrucksweise des menschlichen Geistes"[15] sah. Denn die Herstellung von ‘Kunst’ war damit nicht in Frage gestellt.

Es ist hier jedoch festzuhalten, daß van Doesburgs Elementarismus für hermans künstlerische Entwicklung zumindest indirekt von großer Bedeutung war. Denn die Ideen van Doesburgs wurde nach dem Kriege zur Grundlage für die Entwicklung der Konkreten Kunst, die auf die Befreiung des Kunstwerks aus der Kategorie des "Als-Ob" abzielte, also auf die Emanzipation von einem wie immer bestimmten Anspruch, durch das Kunstwerk etwas darstellen zu können, das es faktisch nicht ist. Diese von der Konkreten Kunst formulierte und in der Neuen Konkreten Kunst radikalisierte[16] Position, geht aber als eine wichtige Vorbedingung in hermans Werk ein, und es tut dabei nichts zur Sache, daß herman die Frühform der Konkreten Kunst: das Informel alsbald aufgab und die Konkrete wie die Konstruktive Kunst in seinen "random objectivations" (ab 1962) auch als künstlerischen Stil überwand, indem er sich als künstlerisches Subjekt vollkommen zurücknahm: "the choise of the depersonalized act is as important as the creative act itself,"[17] schrieb er in einer Erläuterung seines Vorgehens bei der Entwicklung dieser umfangreichen Werkgruppe und schuf sich so - im Rahmen von Kunst - die wichtigste Grundlage für seinen späteren Ausstieg aus dem Betrieb.

Die "random objectivations" waren allerdings ein Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit der traditionellen Kunst und trieben deren Entwicklung an eine äußerste Grenze der Formalisierung und Entpersonalisierung, die, soweit ich sehen kann, bis heute nicht überschritten wurde. Für herman hatten die "random objectivations" jedoch nicht nur als künstlerische Arbeiten Bedeutung. Wichtiger als deren Wert im Rahmen von ‘Kunst’ war für herman, daß es ihm durch sie erstmals gelang, seine bis dahin getrennten Seelen (und Tätigkeiten) als Künstler und botanischer Wissenschaftler miteinander zu verbinden und füreinander fruchtbar zu machen, ohne in dieser oder in jener Hinsicht einen Kompromiß eingehen zu müssen: Die "random objectivations" sind, auch wenn sie als Kunstwerke daher kommen und als solche wahrgenommen werden, wissenschaftlich entwickelt und nach den Regeln der Wissenschaft nachvollziehbar, können andererseits aber auch als ‘visual information’ (herman) eines wissenschaftlichen Experiments verstanden werden. Dies war herman wichtig und hier kam er zu dem, was immer mehr als das bloße Kunstmachen interessierte und 1966 programmatisch formulierte: "... (ich) finde es wichtig, wissenschaftliche Möglichkeiten auf ein anderes Gebiet zu übertragen und auch dort anzuwenden. in meinem falle auf dem gebiet der kunst. die einseitige verwendung wissenschaftlich-technischer möglichkeiten und kenntnisse führt uns in ein kulturelles niemandsland. durch die einseitige verwendung wird eine kluft aufgerissen zwischen dem menschen in seiner gesamtheit und dem leben. diese kluft überbrücken zu helfen ist eine der aufgaben des heutigen künstlers. er muß die möglichkeit geben, die eigene wirklichkeit bewußt zu machen. damit liefert er einen beitrag zur überwindung der in unserer zivilisation bestehenden spannung, in der person und wirklichkeit nicht mehr als eine einheit erfahren werden können."[18]

 

Als wissenschaftliche, aus der Anwendung aleatorischen Methoden entwickelte Arbeiten waren die "random objectivations" im Kontext der Konstruktiven oder Konkreten Kunst bedeutsame Kunstwerke, insoweit sie in der Tat nichts anderes darstellten, "als die wirklichkeit. einen kleinen teil der wirklichkeit nur, aber einen, in dem die totalität erkennbar wird. die wirklichkeit, die wir andauernd in ihren Einzelteilen erfahren"[19] - und damit eine wesentliche Zielsetzung dieses künstlerischen Konzepts erfüllten. Doch nahm herman die Ergebnisse seiner Arbeit in ganz anderer Weise als der Kunstbetrieb ernst. Denn an den "random objectivations" machte herman zum ersten Mal als Künstler und Wissenschaftler die Erfahrung, auf die er später immer wieder zurückkommen sollte und aus der heraus er seine ganz eigene Position ("integration") gegenüber der natürlichen Ordnung der Welt entwickelte: "in allen meinen objekten ist jedes einzelne element gleich wichtig. wenn ein einziges element herausgenommen oder in seiner position verändert würde, hätten wir nicht mehr dasselbe bild vor uns, das mit einer kleinen oder größeren ungenauigkeit behaftet wäre, sondern ein mehr oder weniger anderes bild. es gibt keine elemente in meinen bildern, die 'wichtigter' sind, als andere elemente. alle sind sie gleich wichtig."[20]

 

Erhielt hermans Diktum "es gibt keine gegensätze" durch die "random objectivations" nicht zuletzt auch einen ganz lebenspraktischen Sinn, so wurden die "random objectivations" andererseits zur Triebfeder für die weitere Entwicklung seines Werks und zwar gerade deshalb, weil die mit ihnen erreichte Objektivierung und Demokratisierung künstlerischen Handelns herman, zumindest aus heutiger Sicht, in eine Sackgasse zu führen drohte. Denn die aleatorisch-wissenschaftliche Methode, nach der die "random objectivations" entstanden, ist nicht nur, genauso wie die Fotografie, ein effektives Verfahren, das von einem Individuum auf die Wirklichkeit lediglich angewendet wird und, insofern ein subjektiver Eingriff unterbleibt, ‘objektive’ Bilder der Wirklichkeit gewinnen läßt; vielmehr ergibt sich aus der Anwendung von Zufallsoperationen als bildgebendes Verfahren das gleiche Problem, das Kracauer mit Blick auf die Fotografie so deutlich benannte: die Frage nach der Bedeutung der auf diese oder jene Weise methodisch gewonnen Bilder. Dabei mußte auch der Hinweis, es handele sich bei den Ergebnissen dieses Verfahrens nicht um komponierte Bilder, sondern um die Ausbreitung einer "singulären wahrheit in einem vorgegebenen rahmen" (herman) unbefriedigend bleiben. Denn die Wahrheit der "random objectivations" war immer nur die Wahrheit, man könnte auch sagen: die Widerspruchsfreiheit innerhalb eines subjektiv gesetzten Rahmens und ihre Wirklichkeit abstrakt, insoweit nicht aus den Objekten selbst oder ihren einzelnen Elementen anschaulich erfahren werden konnte, sondern nur über eine Rekonstruktion der der Bildfindung zugrunde liegenden Methode. Daher mußten die "random objectivations" gerade im Vergleich zur Fotografie trotz aller Objektivierung des künstlerischen Handelns und der Tatsache, daß ihre Bedeutung mit der Methode ihrer Herstellung in eins fiel, immer noch als Kunst im traditionellen Sinn erscheinen; und zwar vor allem deshalb, weil sich die Zufallsoperation, das effektive Verfahren, nicht auf unmittelbare Wirklichkeit, sondern auf Formen bezog, sich allein einer künstlerischen Setzung verdankten - Kreisscheiben, Quadrate, Holzstäbe oder Holzwürfel sind wie Zahlen und Buchstaben, um nur einige Beispiele zu nennen, eben keine Produkte der natürlichen Wirklichkeit, sondern menschliche Artefakte.

III. "ist die welt des glücklichen eine andere als die des unglücklichen?"[21]

Es ist bezeichnend für herman, daß er nicht, wie viele Künstler, ein Opfer seines erfolgreichen Kunst-Konzeptes werden wollte, es also eben nicht lebenslang in allen denkbaren Varianten durchspielte, sondern (um 1967) sowohl aus seinem bürgerlichen Beruf wie aus der Kunstszene ausstieg und in einem lang andauernden, schmerzlichen Prozeß einen Neuanfang suchte. Und es ist weiterhin bezeichnend für herman, daß er den neuen Ansatz für seine künstlerisch-wissenschaftliche Tätigkeit nicht durch einen Bruch mit seinen bis dahin entwickelten Arbeitsmethoden oder den daraus resultierenden Erfahrungen fand, sondern durch deren unkonventionelle Anwendung. Einmal mehr erwies sich dabei die systematische Beschäftigung mit dem Zufall als das entscheidende, als das "fruchtbare Moment" in seinem Werk. Denn indem er in "the seeings of my beings" (1973)[22] eine Zufallsoperation auf sich selbst anwandte, löste er nicht nur den in den "random objectivations" manifesten Widerspruch zwischen objektiver Methode und subjektiver Anwendung auf, sondern konnte nun auch sein Verhältnis zur Wirklichkeit in systematischer Weise bestimmen. Dabei scheint mir bemerkenswert, daß dieser Schritt mit Hilfe der Fotografie, also in der Anwendung eines effektiven Verfahrens auf ein effektives Verfahren, oder anders gesagt, durch die Rückkoppelung zweier bildgebender Verfahren, gelang. Denn so kurzgeschlossen, gaben sie nicht nur den Blick auf die Wirklichkeit frei, sondern ermöglichten sie herman die Einnahme einer strukturell anderen Position mit Bezug auf die Wirklichkeit: die Position eines Selbst, das sich als Teil der Wirklichkeit, die es durch seine Wahrnehmung konstituiert, reflektiert. Aus herman, dem artifex, und herman, dem Wissenschaftler, wurde so ein Beobachter Zweiter Ordnung, gewissermaßen das Bewußtsein dessen, was er beobachtete. Die eher unscheinbare und akzidentiell anmutende Arbeit "seeings of my beings" erscheint mir daher als der eigentliche Wendepunkt in hermans Werk, als die ‘Operation’, mit der er sich endgültig aus dem Kunstbetrieb lösen und in die Wirklichkeit, in die Natur gehen konnte: als Subjekt und Individuum, als jemand, der Künstlertum und exakte Wissenschaft in sich vereint, mit seiner Muse, Gefährtin und Frau Susanne.

 

Daß ihm mit "seeings of my beings" ein bedeutender Schritt gelungen war, war herman offensichtlich bald bewußt[23]. Dies läßt der Text erkennen, den er zu der Fotoserie verfaßte: er beginnt mit der Beschreibung der Versuchsanordnung, geht sodann über in eine Reflexion des Versuchs und endet schließlich als ein Manifest:

"die fotos dieser serie können als reproduktionen der wirklichkeit aufgefaßt werden. insofern ist diese serie nicht als so real aufzufassen wie meine objekte, die wirklichkeit sind. andererseits sind auch diese reproduktionen der wirklichkeit nicht mehr die wirklichkeit, die sie abbilden, sondern sind, als reproduktionen, ihre eigene wirklichkeit geworden, so daß sie in ihrem eigenen so-sein an der wirklichkeit, wie sie jetzt ist, teilhaben und, obgleich zustände der natur, durch unsere aktivität an ihr teilnehmen.

hieraus wird meine position klar, daß abstrakte Kunst nicht existiert.

diese serie ist aus dem gedanken entstanden, daß nicht nur, was man macht, tut, denkt, teil eines konzeptes ist, sondern auch das, was man wahrnimmt" (...)

my poetry is the world."[24]

Das Bemühen um eine Repositionierung kam auch in hermans langjähriger Beschäftigung mit den Schriften von Ludwig Wittgenstein zum Ausdruck, die er 1974, also etwa in der Zeit, als "the seeings of my beings" entstanden, mit seinen "wittgenstein-papers" abschloß. Hier stehen nicht nur die Fragen, die in diesem Text hier den einzelnen Abschnitten vorangestellt sind, sondern erreicht herman erneut einen Nullpunkt, indem er den "wert der loslösung" erkannte: "die tatsache, daß sprache nur denken vermittelt, aber keine erfahrung, daß jede bedeutung, um erfahrbar zu werden, immer aufs neue in frage gestellt werden muß ..."[25]

 

Dieser Nullpunkt war aber ein ganz anderer als der, den herman um 1960 mit seinen weißen Bildern erreicht hatte. Denn dieser neue Nullpunkt lag nicht mehr im Bereich der Kunst, sondern mitten in der Wirklichkeit, ist die Stelle, an der, wie John Cage mit "Silence" definierte, "a freedom of anyone’s intentions" herrscht, ein Ort der großen Ruhe und Gelassenheit, ein Punkt, in dem sich, wie in einem Brennglas, alles focussiert, ein Ort, durch den Alles hindurchgeht und doch Nichts ist - es sei denn, es würde, aus welchen Gründen auch immer, festgehalten.

 

Ich möchte im folgenden diese Position, die herman ab Mitte der siebziger Jahre in Theorie, Poesie[26] und künstlerischer Praxis gegenüber jenen artifici einnimmt und lebt, die in den Hervorbringungen ihrer ars, sei es intentional oder unbewußt, die Berherrschbarkeit der Natur demonstrieren, als die Position eines artifex arboris inversae beschreiben. Dabei geht es mir nicht darum, herman respektive seiner Arbeit einen neuen Begriff überzustülpen (er wäre ohnehin wohl zu kompliziert und unverständlich, um als ein Label zu dienen). Vielmehr möchte ich über diesen Begriff hermans Position auf eine Traditionslinie beziehen, die, im Unterschied zu der oben skizzierten, explizit an einer ganzheitlichen Vorstellung vom Menschen und seiner Verbindung mit dem Kosmos festhält. Sie geht, gemäß weit zurückreichender Vorstellungen,[27] davon aus, daß der Mensch selbst eine ‚kleine Welt‘ sei und sich im Mikrokosmos seiner Erfahrung und seines Wissens zum Beispiel durch eine Sammlung ein Bild von der Welt gegenüberstellen konnte, von dem er begründet annehmen durfte, daß sich in ihm die Welt - verstanden als ein von einem schöpferischen Gott wohlgeordneter Kosmos - spiegele.[28]

 

Diese Vorstellung oder, systemtheoretisch ausgedrückt, diese Beobachtung der Welt, erfuhr seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine ‘signifikante Potenzierung’ durch den Umstand, daß die Schöpfer der Schatz- und Wunderkammer-Mikrokosmen sich diese noch einmal in Kunstwerken, als zweite Verkleinerung, zur Anschauung bringen ließen,[29] und auf diese Weise, aber auch durch schriftliche Kompendien der Sammlungen, eine Beobachtung Zweiter Ordnung, also eine Reflexion des eigenen Weltbildes entwickelten. In diesem Zusammenhang ist die zu Beginn des 17. Jahrhunderts von J.H. Alsted entwickelte Theorie zu sehen, derzufolge der Mensch als ein arbor inversa zu verstehen sei, in dessen unteilbarem Wesensganzen sich die explizierte, differenzierte und geteilte Welt, die er als arbor explicata verstand, spiegele.[30] Dabei ist der arbor inversa nicht als ein umgekehrter, sondern als ein in sich gewendeter Baum zu verstehen, also als ein Baum, der durch innere Differenzierung ein Äquivalent zum Kosmos bildet.

 

Strukturell betrachtet ist Alsteds arbor inversa allerdings, so faszinierend die Vorstellung von einem in sich gewendeten Baum auch ist, nicht mehr als eine einfache, wenn auch wie durch einen Algorithmus gebrochene Spiegelung der Welt. Denn in ihr hat das Bewußtsein und damit die Selbstreflexion keinen Platz, und damit fällt Alsteds Theorie hinter das mit den Bildern von und über Schatz- und Wunderkammern etablierte Reflexionsniveau zurück. Doch erscheint mir andererseits das Bild vom Menschen als einem arbor inversa so glücklich getroffen, daß ich es nicht nur erwähnen, sondern als ein Werkzeug für das Verständnis von hermans Position in der Welt einsetzen will. So soll in meiner Begriffsbildung artifex arboris inversae zum Ausdruck kommen, daß der Mensch, wenn er nicht vielleicht doch ein in sich gewendeter Baum ist, sich zumindest als ein solcher Baum begreifen und seinen Platz im Kosmos erkennen kann. Der arbor inversa ist also in jedem Fall ein von Menschen gemachter Baum, ein wissenschaftlich-künstlerisches Konstrukt, eine dem Zufall vergleichbare Denkfigur oder Konstruktion über die Wirklichkeit, ein Baum der Erkenntnis, den herman hegt und pflegt - wenn er nicht in ihm sitzt und uns seine Früchte zuwirft: "es gibt nichts, was ohne zusammenhang zum ganzen steht. wenn das ganze einen sinn hat, dann ist jeder aspekt davon voller inhalt und repräsentiert alles. wenn etwas ohne sinn ist, ist auch das ganze sinnlos. entdeckungen in diesem layrinth - vorbei an dem zwiespalt der sprache - sind abenteur - und auch holzweg führt irgendwo hin."(1989)[31]

 

IV. "ist denn alles so-sein zufällig?"[32]

 

Es war die Arbeit "ich bin was ich bin. flora incorporata" (1988), die mich auf den Gedanken brachte, in herman einen artifex arboris inversae am Werke zu sehen. Denn diese Arbeit, das Buch mit den Namen von 484 verschiedenen Pflanzen, die herman erinnert, irgendwann einmal eingenommen zu haben, ist nicht nur die differenzierte Beschreibung eines arbor inversa, sondern darüber hinaus ein geradezu ‘klassisches’ Dokument der Bewegung, die im Bild vom arbor inversa kulminiert.Das Buch "flora incorporata" ist so in der Tat ein "document of my unity with my life-space. in fact, it shows that we cannot seperate ‘me’ and my life space. (...) it is the space of my cyclic participation. here i do plant my mais, here i buy eggs, here i do collect nettles, elder berries, hawthorn, which i need for the continuation of my life. by them i do live, with them i live, from them i have life. what i take in me is what i am. my life-space is also my identity: ’i am what i am’."[33]

Mit "flora incorporata" als Schlüssel begann ich, hermans Auseinandersetzung mit der Natur mit anderen Augen wahrzunehmen und entdeckte immer wieder die sich in sich wendende Bewegung, den arbor inversa, als das ihnen zugrunde liegende Gestaltungsprinzip. Dabei spreche ich hier nicht von einem künstlerischen Gestaltungsprinzip: einer formalen Idee oder einem Verfahren, durch dessen Anwendung Bilder oder Objekte erzeugt werden können, sondern von einem ganz allgemeinen, selbstbewußten Nachvollzug der Bewegung, die unsere Welt im Großen wie im Kleinen bestimmt und zusammenhält, einer Bewegung, die in höchst unterschiedlicher Weise offenbar werden kann - und die herman mit viel Witz und Wissen sich als Kunst ‘bilden’ läßt. Denn tatsächlich benutzt er das Arsenal der künstlerischen Techniken und Verfahren nicht mehr, um Kunst herzustellen, sondern um in dem Freiraum, den der Bereich der Kunst immerhin noch bietet, seine Position in der Welt sichtbar und für andere nachvollziehbar zu machen. In hermans Worten: "art is not definable. every defintion of it is a limitation. but for me it has to do with the formulation of conciousness or with the process of becoming conscious. this consciousness i see happening around me in nature and i show what i have seen happening, what i have seen being."[34]

Die inverse Bewegung, die herman durch Kunst zur Anschauung zu bringen versteht, ist an allen seinen Arbeiten ‘mit’ der Natur erkennbar, zeigt sich jedoch in höchst unterschiedlicher Form, je nach dem, auf welches ‘being’ sie sich bezieht und welche Mittel herman benutzt, um sie sich offenbaren zu lassen. Dabei sind seine Mittel typischerweise keine elaborierten Künstler- oder, allgemeiner gesprochen Umformungstechniken, sondern sehr einfache und sanfte Arbeitsmethoden, die sowohl im künstlerischen wie im wissenschaftlichen Bereich Anwendung finden und die die ihnen unterworfenen Dinge mehr oder weniger unversehrt lassen: das Sammeln, Trocknen, Pressen, Reiben und Ordnen der gefundenen Stücke und Proben sowie gegebenenfalls deren Einnahme und die Beschreibung ihrer Wirkung auf den Organismus. Bedeutsam ist hier aber auch, daß herman bei seiner Arbeit immer von der Ordnung und Differenzierung, die die Natur selbst hervorbringt, ausgeht, sie also nicht in Material zerlegt. Denn nur so kann das selbst im kleinsten Natur-Stück innewohnende Bewegungspotential zur Geltung kommen.

 

Es sind allerdings meistens Sammlungen, die die Grundlage zumindest für hermans größere Arbeiten bilden. Und vor allem als Sammler hat herman ein großes Repertoire unterschiedlicher Strategien entwickelt. So sammelt er innerhalb einer Art, um die bestimmte Wirkung einer Pflanze zu verstärken. Dies gilt exemplarisch für seine Arbeit "rosa damascena" (1984), 108 Pfund Blüten, die herman, in einer Kreisform ausgestreut, wie eine große Blüte präsentiert, und von der eine unvorsehbare, den ganzen Raum ergreifende Bewegung ausgeht, die, als Differenz zwischen dem, was man sieht, und dem, was man riecht, analysierbar, den Beriecher/Betrachter erfaßt und beschwingt, ja betört. Oder so sammelt er innerhalb einer Art, um die individuelle Formenvielfalt ihrer Blätter, auch der Blätter nur einer Pflanze, zur Anschauung zu bringen, wie zum Beispiel in seinen Arbeiten "2109x (heidelbeerblätter)", 1986, "148x (salix elaeagnos)" 1993 oder "leaves from under the cherry tree" 19??. Und so sammelt er innerhalb einer Gattung, um deren Differenzierung in verschiedene Arten wie wiederum deren innere Differenzierung sinnfällig machen zu können ("quercus", 1992, 28 teile aus dem royal botanic garden, edinburgh). Andere Sammlungen definieren den Pflanzenreichtum eines spezifischen Ortes ("aus meinem garten", 1988; "aus frieda’s wiese", 1982) oder die verschiedenen Wuchsformen einer Pflanzenart an einem bestimmten Standort ("phalaris arundinacea. sechs pflanzen aus einer gruppe", 1990). Schließlich kann herman mit einer Sammlung von Blättern nicht nur einen Ort, sondern auch einen bestimmten Zeitraum zur Anschauung bringen und, darin eingeschlossen, sozusagen nebenbei, ein kleines Lehrstück zur natürlichen Zufallsverteilung (zum Beispiel in "zwei tage unter der weißdornhecke. oktober 1992"). Ob nun aber morphologisch, topographisch oder aufgrund einer spezifischen Eigenschaft einer Pflanze begründet: für alle Sammlungen, die herman anlegt und präsentiert, gilt, was er 1984 in einem Interview mit Alexander Baier auf die Frage äußerte, ob es denn für einen Betrachter reiche, einfach ein Blatt aufzuheben: ja, antwortete herman, denn "die ganze welt geht mit."[35] Und so wie hier wiederum die inverse Bewegung aus der Welt in die Welt zum Ausdruck kommt, so ist sie auch an einer anderen Gruppe von Sammlungen, seinen verschiedenen Namenbildern, in "im feld der erfahrungen", 1987, "landschaft in unterfranken", 1993 oder "ocean of stream, 19??, um nur einige Beispiele zu nennen, erfahrbar. Denn ganz abgesehen davon, daß herman auf diese Weise ganze Vegetationsgruppen, Landschaften oder Flußsysteme auf ein Blatt Papier zaubern kann, weisen die Namenbilder gerade durch ihre Genauigkeit mit Bezug auf den bestimmten Ausschnitt, den sie definieren, auf das Ganze, das nicht benannt werden kann, hin: spürt man die Erfahrung des methodisch geschulten Künstler-Wissenschaftlers im Umgang mit Verfahren und Systemen. So kann er seine Sammlungsstrategie auch dafür einsetzen, nicht mehr Existentes, wie ausgestorbene Pflanzen ("ausgestorben in deutschland", 1990) oder vernichtete Landschaften (""in memory of the scottish forest" 1986) ins Bewußtsein zu rufen oder, in einer Umkehrung der typischen Sammlerbewegung, das Sammeln zur Analyse eines Stücks Welt einsetzen, wie es ihm in einem seiner Meisterstücke, der Arbeit "16 dm2" von 1974 gelang: Für diese Installation, 1979 in der Vleeshal in Middelburg gezeigt, grub herman ein Stück Wiese aus, nahm sie auseinander und präsentierte er die gepreßten und auf Papier befestigten Pflanzen einzeln an den Wänden: So stand man als Betrachter buchstäblich in der Wiese und trat in einer ingeniösen Ineinssetzung von Dekonstruktion und Konstruktion anstelle des Begriffs ‘Wiese’ die konkrete Erfahrung der sie konstituierenden Elemente, konnte man also in dieser Installation am Beispiel der Wiese die erkenntnistheoretische Problematik des Verhältnisses zwischen Wahrnehmen und Begriffe-Bilden entwickelt sehen.

 

V. "was ist der fall?"[36]

Auch hermans drei bisher größten Projekte[37], "natural relations" (1984-89), "die wiese" (seit 1986) und "from earth (erdmuseum), (19?? begonnen) sind Sammlungen. Sie verdanken sich jeweils einer weitausholenden und kontinuierlich ausgeübten, im Fall der Erdensammlung die ganze Welt umfassenden Bewegung, und definieren auf unterschiedliche Weise unseren Lebensraum - und die Verluste, mit denen wir den sogenannten Fortschritt unserer Zivilisation und Kultur teuer erkaufen. Was ist der Fall? Ohne daß er es plante oder nur intendierte[38], ist hermans Werk auch zu einer politischen Arbeit geworden. Denn was er uns zeigt, weist dadurch, wie er es uns zeigt: als Teil des Ganzen, immer häufiger und deutlich auf das hin, was nicht mehr gezeigt werden kann. Denn die vom instrumentellen Geist geprägten Eingriffe in die Natur sind, allem ökologischen Bewußtsein zu trotz, keineswegs vorsichtiger, sondern nur subtiler geworden, vor allem aber aus unserem unmittelbaren Gesichtsfeld gerückt. So erhält hermans Arbeit, vielleicht nicht zufällig, als Wissenschaft im buchstäblichen Sinn des Wortes: als Schaffung von Wissen, als Erhalt von verschüttetem und vergessenem Wissen und als Schaffung von Bewußtsein über diesen Prozeß wachsende Bedeutung. Es stimmt hoffnungsvoll, daß ihm dies durch seine Selbstreflexion als Künstler gelang.

 

Michael Fehr: herman de vries: Artifex arboris inversae, in: herman de vries - aus der wirklichkeit, Katalog Stadthaus Ulm 1998, 8-27

© 1998 Michael Fehr


* Die ungefähre Übersetzung dieses Begriffs lautet: Künstler des in sich gewendeten Baumes

[1] herman de vries, the wittgenstein-papers - fragmentarische argumente, in: taal beeld taal, transit 1, brummense uitgeverij van luxe werjes, beuningen 1975

[2] Siegfried Kracauer, Die Fotografie, in: ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt 1977, S. 27

[3] vgl. Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München, Wien 1991, S. 151 f.

[4] vgl. dazu auch die Äußerungen von herman de vries in: n = 0 (1961), in: Andreas Meier (Hrsg.), herman de vries: to be. Auswahl von schriften und bildern 1954-1995, Stuttgart 1995, S. 25, wo mit einem ähnlichen Argument die typische Kunstproduktion kritisiert wird.

[5] a.a.O. S. 25 f.

[6] a.a.O., Anmerkung 1

[7] J. S. Eriugena, Super ierarchiam coelestam Sancti Dionysii I,I, zitiert nach: Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963, S. 146

[8] Zitiert nach Meier, 1995, S. 20

[9] Ich revidiere im folgenden meine eigene, in: herman de vries, natural relations. eine skizze, (Ausstellungskatalog des Karl Ernst Osthaus-Museums), Nürnberg 1989, S. XIII ff. entwickelte Position

[10] herman de vries, fragmente an meine russischen freunde (1992), zitiert nach Meier, 1995, S. 156

[11] Vgl. das Frühwerk von Mondrian

[12] Piet Mondrian, Die Neue Gestaltung in der Malerei, hier zitiert nach: Hagen Bächler/Herbert Letsch, De Stijl. Schriften und Manifeste, Leipzig und Weimar, 1984, S. 62

[13] Vgl. dazu auch Urs und Rös Graf, Über herman herman, in: herman de vries 1954 -1980, Ausstellungskatalog Groninger Museum 1980, S. 23

[14] Tagebuchnotiz vom 15.4.57, hier zitiert nach: U. und R. Graf, 1980, S. 13

[15] Theo van Doesburg, Malerei und Plastik (1926/27), hier zitiert nach: Bächler/Letsch, 1984, S. 202 f.

[16] Im Unterschied zur Konkreten Kunst besteht die Neue Konkrete Kunst auf einer Einheit von Form und Material: die Form soll sich als Eigenschaft des Materials, das Material aber als eine Konkretion der Form erweisen. Vgl. dazu Max Imdahl, Serras ‘Right Angle Prop’ und ‘Tot’. Konkrete Kunst und Paradigma, in: R. Serra, Arbeiten 67-77, Ausstellungskatalog Tübingen/Baden-Baden 1978, S. 164 ff

[17] Zitiert nach Meier, 1995, S. 29

[18] Interview von Alexander Baier mit herman de vries, 1966, in: Meier, 1995, S. 53

[19] herman de vries, über die zufallsobjektivierungen: objektivität und wirklichkeit, in: Meier, 1995, S. 30

[20] a.a.O., Anmerkung 17

[21] vgl. Anmerkung 1

[22] In dieser Serie ließ sich herman von susanne nach einem zuvor festgelegten Protokoll, das Zeitpunkt, Abstand, Position und Blickwinkel festlegte, fotografieren, um sodann sein so fixiertes ‘seeing’ selbst zu fotografieren. Vgl. herman de vries, a random sample of the seeings of my beings (1973), in: Meier, 1995, S. 82 ff.

[23] Lieber herman, ich wüßte gerne, ob und in wie weit für die Entwicklung dieses Schritts die Ideen der Fluxus-Bewegung von Bedeutung waren. Eben sagte mir herman: "nein".

[24] a.a.O., in: Meier, 1995, S. 83 ff.

[25] zitiert nach: Meier, 1995, S 94 f

[26] Ich habe nicht die Kompetenz, hermans poetische Beiträge, die in dem oben zitierten, von Andreas Meier herausgegeben Buch im Zusammenhang publiziert sind, angemessen einzuordnen. Doch möchte ich hier festhalten, daß hermans Texte mir als wesentlicher Teil seines Gesamtwerks erscheinen. Denn mit ihnen bringt er nicht nur immer wieder seine künstlerischen Konzeptionen auf den Punkt; vielmehr versteht herman es, über seine poetischen Texte seine künstlerische Position in Bereiche zu erweitern, die dem bildnerischen Gestalten nicht zugänglich sind. Als Beispiel möchte ich hier auf seinen, in diesem Band abgedruckten Text my poetry is the world verweisen, der im Zusammenhang mit "the seeings of my beings" entstand und als eine Ineinssetzung von Entwicklung und Reflexion der Konzeption des Künstlers verstanden werden kann.

[27] vgl. R. Allers, Microcosmos. From Aanaximandoros to Paracelsus, in: Traditio 2 (1944)

[28] vgl. Thomas Leinkauf: "Mundus combinatus" und "ars combinatoria" als geistesgeschichtlicher Hintergrund des Museum Kircherianum in Rom, in: Andreas Grote (Hrsg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 536-553, hier S. 536

[29] a.a.O., 536

[30] a.a.O., 538

[31] zitiert nach Meier, 1995, S. 155

[32] a.a.O., Anmerkung 1

[33] zitiert nach: Meier, 1995, S. 142

[34] zitiert nach Meier, 1995, S. 156

[35] zitiert nach Meier, 1995, S. 102

[36] a.a.O., Anmerkung 1

[37] Diese Projekte sind ausführlich besprochen bzw. dargestellt in z.B.: herman de vries, natural relations. eine skizze, siehe Anmerkung 8; Michael Fehr, hermans Wiese. Ein Museum, in: Daidalos Nr. 46/ 1992, S. 34-39; herman de vries, from earth - von der erde, Ausstellungskatalog Städtische Galerie am Markt, Schwäbisch Hall 1998

[38] Vielleicht stimmt das doch nicht ganz. Vgl. das Zitat in Abschnitt II, Anmerkung 18