Osthaus, Karl Ernst: Erinnerungen an Renoir, in: Feuer. Illustrierte Monatszeitschrift für Kunst und Künstlerische Kultur, Bd. 1, Saarbrücken 1919/20, S. 313-318.

"Spät war es, im Frühling 1913, als ich Renoir kennen lernte. Der weite Weg nach Cagnes hatte die Begegnung immer wieder verhindert. Aber ein Jahr zuvor hatte der Wunsch, ein spätes Bild zu erwerben, meine Gattin zu ihm geführt. Aus dieser ersten Begegnung war eine Freundschaft erwachsen. Sie kehrte im selben Jahr nochmals nach Cagnes zurück, und damals entstand ihr Porträt, das heute im Folkwang hängt. So war ich eingeführt, als ich zum ersten Mal vor ihn trat, um die Hand, die ich am höchsten verehrte unter allen Händen, zu küssen.
Es war ein Frühlingsabend, als ich den schmalen Pfad zu seinem Hause hinanstieg. Fern hinter duftenden Gärten rauschte das Meer, und Cagnes, das romantische Bergnest mit der ragenden Burg, haftete wie ein Kegel vor dem Hintergrund der Rivieraberge. Gartenmauern, mit Agaven besetzt, begleiteten den Weg, und aus den Agaven schossen die Blüten zu erstaunlicher Höhe empor. Bald öffnete sich zur Linken ein Gartentor zwischen Zypressen, und durch Oliven und Blumen wand sich der Weg zu dem heiteren, auf der Höhe gelegenen Hause Renoirs. Alles schwamm in weichen, beglückenden Tönen, und Wolken balsamischen Wohlgeruchs erfüllten die Luft.

Auf der oberen Terrasse, wo die schönsten Schauorangen standen, sah ich Coco, den blonden Knaben, der alle Bilder des Vaters in seinen Zügen zu tragen schien. Er lächelte freundlich, als ich meinen Namen nannte, und führte mich zur Mutter. Madame Renoir ist eine sympathische Hausfrau, in mittleren Jahren; ich wußte, daß sie eine umfangreiche Ölwirtschaft betrieb, denn der Meister hatte seit Jahren die Olivenbestände von Cagnes in seine Hand gebracht, um sie vor dem Abholzen zu bewahren. Sie führte mich die Treppe hinan und öffnete das Atelier.

Renoir saß am Fenster, ins Zimmer gekehrt, und malte. Unbeschreiblich war der große, fragende Blick, den er von der Arbeit auf mich richtete. Alle Züge des kleinen, weißbärtigen Kopfes schienen um diesen Blick zu kreisen. Ja, es war, als hinge die ganze zusammengesunkene Gestalt an dem flammenden Auge. Denn, was da saß, war die Ruine eines Menschen, ein Bild des Jammers, wäre es nicht durch die unerhörte Intensität des Geistigen zu einem Phänomen geworden. Alle Glieder schienen schmerzhaft verkrümmt, der Pinsel haftete zwischen den Knöcheln verquollener Finger, die gegen die Handfläche gebogen waren und sich jeder Streckung widersetzten. Gabriele, seine langjährige Pflegerin, war um ihn bemüht und reichte ihm jeden Gegenstand, nach dem er verlangte.

Das erste Gespräch drehte sich um äußere Dinge, um Modelle, die der Süden verursachte, und um ihre Überwindung. Ich erfuhr, daß er viel aus dem Fenster malte, zuzeiten sich aber auch im Auto hinausfahren ließ, um an einer glücklichen Stelle zu Pinsel und Palette zu greifen. Alle Bilder entstanden vor der Natur. Auch ließ er auf meine Bitte eine Skizze hervorsuchen, die nach meiner Gattin vor dem ausgeführten Porträt entstanden war. Ich wußte, daß er vor dem germanischen Profil nach Donatello gerufen hatte, und in der Tat verriet die Skizze jenen Versuch, im Sinne frühflorentinischer Bildnisse zu komponieren. Aber er hatte sie bald verworfen. "Es geht doch nicht." Der Entwurf gab ihm recht. Er war, trotz der strengen Profilhaltung, so ganz ein Renoir, daß man die Strenge, die ihm vorschwebte, nie empfunden hätte.

Es kam die Stunde, da der Meister den Platz zu wechseln pflegte. Gabriele rief eine Magd zu Hilfe, und beide trugen ihn auf einem Tuche die Treppe hinab.

Als ich das Haus verließ - es war um Sonnenuntergang - lockten mich die Oliven hinter dem Garten in ihre schimmernde Dämmerung. Und - o Wunder! - waren es nicht die Oliven Renoirs, die mich am sanften Hange zum Gipfel begleiteten? Wie problematisch ist uns lange seine rosenfarbene Atmosphäre erschienen! Hier aber umgab mich ein Licht, das die ganze Landschaft in Rosenschimmer erscheinen ließ. Rosenfarben standen die Oliven. Eine Zartheit sondergleichen umkoste jede ihrer Formen. Das leise Wiegen der Zweige, der lichte Schimmer des Bodens, ja das phantastische Zerspelltsein der kernlosen Stämme, alles schien Duft und Süße auszuatmen wie ein blühender Mandelstrauch. Mit einem Male war es klar, daß Renoirs Bilder nur hier entstehen konnten, ja, hier entstehen mußten, daß er das künstlerische Organ dieses glücklichen Himmelsstriches war. Aus diesem Lande, das nur Blühen kennt, in dem das Meer, die Firnen und selbst die Steine blühen, erwuchs auch seine blühende Kunst. Nie hat der Frühling, nie hat Gott Eros den Pinsel eines Meisters mehr beseelt. Es ist nichts Problematisches, nichts Fragendes und nichts Gequältes in seinen Bildern, nur Glück, das Glück des Einsseins mit einer göttlichen allbeseelten Natur.

Der Weg führte aufwärts, immer unter vielhundertjährigen Oliven, zu einem Rücken, wo ein zerfallendes Häuschen unter ragenden Pinien stand. Von hier erschloß sich ein Blick über das langsam erbleichende Küstenland, in dem das Umgehen mit Blumen und Früchten des Tages einzige Last und Arbeit ist. Gesegneter Himmelsstrich! In dir ging die Sonne von Hellas nicht unter, und der göttliche Meister da drunten ist vielleicht noch lange nicht der letzte der Griechen! -

Am anderen Morgen empfing mich Renoir in seinem Speisezimmer. Wieder saß er am Fenster, aber dieses Mal statt des Pinsels die Zigarette zwischen den Knöcheln der Hand. Er war frisch und heiter, offensichtlich zur Unterhaltung aufgelegt. Den ersten Anlaß bot ein Blick aus dem Fenster, der mir einen Ausruf des Staunens entlockte. Denn eine Blumenkaskade von brennendem Rot schien dort den Abhang hinunterzustürzen. Pelargonien und Kapuzinerkresse drängten sich in so üppig quellender Blütenfülle, daß kein grünes Blatt mehr zwischen ihnen sichtbar war. Dieser Ausblick wurde von den Hausgenossen für den Meister besonders gepflegt. Wir sprachen vom Rot, und sein Auge leuchtete, als der Name Tizians fiel. Er hatte ihn in Spanien kennen gelernt, wo die schönsten seiner Bilder zu finden sind. Die alten Meister führten uns durch Europa hin und her, und das Gespräch kam auch auf Deutschland. Renoir hatte es mit deutschen Freunden gemeinsam besucht. Von München hatte er bestimmte Erinnerungen. Dann war noch eine Stadt, deren Namen ihm nicht einfallen wollte. Aber es war ein herrlicher Vermeer da. Ich half ihm: "Dresden?" Nein, Dresden war es nicht, aber der Vermeer war unerhört. Ich schilderte ihm jeden Vermeer in deutschen Galerien, keiner wollte passen. Zuletzt versuchte ich es doch mit der Kupplerin. Sogleich stimmte er lebhaft zu. "Aber dann waren Sie ja doch in Dresden!!" "Vraiment? C'est possible." Uns Vielwissern mag es eine heilsame Lehre sein, daß der Geist eines Großen, inmitten vorzüglicher Werke, nur dem einen sich zuwandte, das ihm zur Zeit die rechte Nahrung bot.

Im folgenden Frühjahr holte ich meine Gattin, die von Ägypten kam, im Hafen von Genua ab. Wir beschlossen, durch die Provence heimzukehren und Renoir in Cagnes zu besuchen. Er empfing uns dieses Mal in einem Atelier zu ebener Erde, denn - Renoir war Bildhauer geworden. Bildhauer? mit unbeweglichen Fingern? Wir erlebten des seltsamste aller Schauspiele. An dem lebensgroßen Tonmodell eines schreitenden Weibes, das seiner Vollendung entgegenging, war emsig ein junger Bildhauer beschäftigt, während Renoir in einem Stühlchen am Boden saß und mit der größten Lebhaftigkeit jeden Fingerdruck des Jünglings lenkte. Die Worte rissen kaum ab, und die willig folgende Hand des Mediums schien völlig dem Meister anzugehören. So seltsam war die Übertragung, daß jeder leiseste Druck eine Form hervorzuzaubern schien, die man aus Bildern des Meisters als nur ihm angehörig in Erinnerung hatte. Der Guß des Werkes sollte bald beginnen; heute steht es im Garten Leo Reinhardts zu Winterthur.

Es war übrigens nicht das erste plastische Werk, das Renoir in seinem Leben schuf. In den Räumen seines Hauses fanden sich Profilbildnisse seiner Söhne, eines als Zierstück in einen Marmorkamin eingelassen. An diesen Söhnen hing er mit großer Liebe. Er hatte sie recht gegen die Konvention erzogen, indem er sie bis zum Alter von 13 Jahren fast ohne Unterricht ließ. Dann meldeten sie sich selbst zur Stelle und bestanden das Baccalaureat nicht später als ihre Altersgenossen."