Der Bahnhof

Von Karl Ernst Osthaus

Es gab eine Zeit, in der man von einer Poesie der Bahnhöfe sprechen konnte. Damals gab es noch keine Sperre. Man brachte als Knabe Stunde um Stunde auf den Bahnsteigen zu, sah die Züge einrollen und ausfahren, berauschte sich an Wagenschildern, die die Phantasie von Paris bis St. Petersburg, von Amsterdam bis zu den Marmortürmen Mailands trugen. Man sah Menschen aussteigen, die noch gestern in jenen märchenhaften Städten gewandert waren, an denen noch der Staub der Boulevards, die Schaumspritzer des Kanals oder des Mittelmeers klebten. Sie wurden empfangen, umarmt - andere rissen sich los, riefen letzte Scheideworte, und Taschentücher winkten ihnen nach. Das Leben schien seine dramatischen Momente an diesen Ort gelegt zu haben; der Zug schaffte Jubel und Schmerz, alles im gleichen Augenblick, und des Lebens Doppelseitigkeit prägte sich tief in die Seele dessen, der diesem Spiel zuschaute. Der Zug wurde zum Symbol des Lebens selbst, seiner Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, und oft verließ man die Halle in der stürmischen Wallung dessen, der den Schleier der Maja gelüftet hat.

Noch andere Dinge gibt es auf den Bahnhöfen, die sich der sentimentalischen Empfänglichkeit mit heißen Zügen einprägen. Die Lust an der geheimnisvollen Verbindung mit Kräften, durch die der Zug, diese gleißende Schlange, in den Schimmer der Sternennacht hinausgeschleudert wird, die lautlose Sprache tausendfältig blinkender Signale, das unablässig wechselnde Spiel von Glanz und Glut im Dampf der Lokomotiven, auf Schienen und Kohle, der Rhythmus von rollenden Rädern, pfeifenden Maschinen und schlagenden Türen, ja die ganze unerhört berechnete Organisation, die das Leben an diesem Ort beherrscht; alles dieses gibt eine so berauschende Fülle von sinngesättigter Erscheinung, daß ein künstlerisches Auge sich leicht daran verlieren mag.

Wer aber heute die Psyche des fahrenden Publikums beobachtet, merkt von allen diesen Erregungen nichts. Ihr Wesen ist äußerste Verhaltenheit. In geschäftiger Hast wälzen die Gassen des Verkehrs Droschken, Autos und Fußgänger an die Portale des Empfangsgebäudes heran; wortkarg vollzieht sich der Schalterdienst, automatisch fast die Gepäckaufgabe. Mit wenigen Blicken orientiert sich der Kundige, die andern erreichen nach ängstlichem Suchen und Fragen das Ziel. Niemand hat Zeit, Gedanken nachzuhängen: der Zug rollt ein, man bestürmt die Abteile, die Türen schlagen zu, und der Zug rollt ab. Wer achtet des andern? Selbst die Begrüßung der Mitfahrenden wird als antiquierte Gewohnheit empfunden. Jeder verschließt sich vor der Menge. Die soziale Entfremdung der Vierklassenmenschen erstreckt sich bis auf die Wartesäle. Verdrossenheit malt sich auf allen Gesichtern, und wenn heute ein Mann aus dem Leben die Eisenbahn lobt, so ist es nur, weil sie ihn auf Stunden von der noch größeren Geißel, dem Telephon befreit. Das Phänomen der Eisenbahn ist nur dem Kinde noch Erlebnis, das nach wie vor die Dampflokomotive als sein liebstes Spielzeug betrachtet.

Wie weit das Verhalten des Publikums der Würde der technischen Leistung entspricht, die sich in der Eisenbahn verkörpert, mag hier unerörtert bleiben. Für den Architekten steht jedenfalls fest, daß der moderne Bahnhof weder eine Stätte innerer Erhebung noch festlicher Hochstimmung ist. Was wir von ihm erwarten, ist knappste Anpassung an das verwickelte Zwecksystem, vollkommenste Übersichtlichkeit über den vielgliedrigen Bauorganismus und Gewährung eines höchstentwickelten, aber durchaus unpersönlichen Komforts. Mit Fug verlangen wir, daß äußerste Solidität der Durchbildung eine Probe von der Betriebsgesinnung gebe. Hygienische Rücksichten erheischen ausgiebige Verwendung von Glas, Keramik, Leder und Metall. Textilien sollten aus Bahnhöfen so gut wie verbannt sein. Die Rauchentwicklung der Lokomotiven drängt zu profillosen, unporösen Flächen und Formen. Aus diesen Rücksichten ergibt sich der sachliche, ganz auf sich beruhende Ausdruck des modernen Bahnhofs.

Es ist keine Frage, daß dieser Ausdruck sich durchzusetzen beginnt. In den weitgespannten Eisenhallen, den geräumigen Unterführungen unserer großen Bahnhöfe spüren wir etwas von der Aufrichtigkeit des modernen, ganz auf Sachlichkeit gerichteten Geistes. Und diese Sachlichkeit berührt wohltuend, eben weil sie aufrichtig ist. Wir würden vor solchen Eindrücken geneigt sein, an die künstlerische Einsicht und Befähigung der Arbeitsministerien zu glauben, wenn nicht jede kleinste architektonische Zutat bewiese, daß die erwähnten Vorzüge ein fast automatisch entstandenes Produkt überaus zwingender Verkehrs- und Betriebsverhältnisse sind. Die Hochlegung der Bahnkörper und Bahnsteige ist eine Folge des ständig wachsenden Straßenverkehrs, der die Bahnschranken nicht mehr ertrug. Die Annäherung der Bahnsteige an die Bodenhöhe der Waggons hat lange genug auf sich warten lassen. Das Ausland, dessen Bahnhöfe man bei uns zu schelten liebt, war uns vielfach darin voraus, und noch heute besteigt man nirgendwo bequemer den Zug als auf der Gare du Quai d'Orsay in Paris. Die hygienische Durchbildung der Anlagen ist eine überaus löbliche Befolgung gesundheitspolizeilicher Vorschriften; noch in keiner deutschen Stadt aber hat das Reinlichkeitsempfinden zur Verbannung der Dampflokomotive geführt wie an dem genannten Pariser Bahnhof, wo die Züge elektrisch entlassen werden, um an der Grenze der Stadt ihren qualmenden Vorspann zu finden. Die grundsätzliche Trennung der Wege des Personen-, des Gepäck- und des Postverkehrs heben wir als einen besonderen Vorzug der deutschen Bahnhöfe hervor und betonen mit Nachdruck, daß die gleichzeitige Durchführung dieser wichtigen verkehrstechnischen Maßnahme an zahllosen Neu- und Umbauten der organisatorischen Kraft Breitenbachs das beste Zeugnis ausstellt. Deutschland wird es nicht zum mindesten diesen Errungenschaften zu danken haben, wenn sich im Kriegsfalle der deutsche Heereskörper als der beweglichste erweisen sollte.

Dieser erfreuliche Umstand darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die architektonischen Vorzüge der preußischen Bahnhöfe teils selbstverständliche Folge des wachsenden Verkehrs, teils - an den Fortschritten sonstiger Ingenieurarchitektur gemessen - recht bescheidener Art sind. Es ist zu loben, wenn der geschlossene Binder bei neueren Hallenbauten das dürftige Stabwerk des Eisens zu ersetzen beginnt. Besonders im Elberfelder Bezirk, in Hannover und in Homburg v. d. Höhe finden sich gute Beispiele dieser Art. Aber bei fast keiner dieser Hallen haben wir das Gefühl, daß sie durch künstlerische Überarbeitung nicht noch besser hätten werden können. Das beleuchtet nicht nur ein Vergleich mit manchen neueren Industrie- und Ausstellungsbauten (z.B. Brüssel 1910), sondern vor allem auch der Umstand, daß, von Leipzig abgesehen, fast alle derartigen Anlagen in den kleineren Bundesstaaten gelungener sind. Von Karlsruhe wird noch zu reden sein, aber auch Hamburg und Darmstadt belegen dies zur Evidenz.

Zum Gegensatz aber wird, was hier nur Abstand schien, sobald wir die Architektur der Empfangsgebäude ins Auge fassen. Wir sind gewohnt, was hier als Baukunst auftritt, mit künstlerischer Hoffnungslosigkeit über uns ergehen zu lassen. Stephans unglückselige Idee, moderne Postgebäude in jener Stilart zu bauen, die einer Stadt eigentümlich schien, ist auf die Bahnhofsbauten übergegangen. Man hat Bahnhöfe gotisch gebaut, in jenem Stil, der christlicher Ekstase beredten Ausdruck gab. Metz ist vor wenigen Jahren noch romanisch ausgefallen. In neuerer Zeit bevorzugt man barocke Gravität: Voluten locken sich unter Fabrikschornsteinen, und heitere Göttinnen sammeln, auf der Attika tänzelnd, den Ruß der Lokomotiven im hochgeschürzten Gewand. An den Fenstern baumeln Girlanden aus Efeu und Widderköpfen, Symbolen mystischer Kulte, die einst Altäre der Götter schmückten; und irgendwo, hinten herum, prangt ein Schloßportal: nur sind die Laternen, die einst aus geschliffenen Gläsern bestand, jetzt undurchsichtig und aus Stein!

Das sind Details von einem Bahnhof, und zwar von einem der besten, die in Preußen entstanden sind. Soll ich bitten, ins Innere einzutreten? Zu bewundern, was da an verballhorntem Empire, klobigem Louis XVI. und gemaltem Wandplüsch geleistet ist? Dabei hat dieser Bahnhof, wie gesagt, seine Vorzüge, und ich nenne die Stadt und den Architekten nicht. Aber wundern Sie sich, daß in diesem Bahnhof der Platz für Fahrpläne und amtliche Bekanntmachungen vergessen worden ist, daß Staffeleien und Automaten so zahlreich darin herumstehn, daß Mütter ihre Kinder verlieren, wenn die Väter den Gepäckträger nicht finden können? Und dennoch sind in dieser Halle eine ganze Anzahl notwendiger Schilder nicht nachträglich angeheftet worden, sondern von vornherein in die Architektur einkomponiert, und es wurde hier, vielleicht zum ersten Male an einem Staatsbahnhof, der Versuch gemacht, die Plakatierungsflächen streng zu isolieren und einer künstlerischen Zensur zu unterwerfen.

Aber dieser Fall ist typisch. Es wäre zwecklos, einem Architekten, einer Baubehörde oder der Eisenbahnverwaltung Vorwürfe zu machen. Und ebenso typisch ist es, daß alle diese Dinge so gefühllos ausgeführt wie banal erfunden sind. Es ist kennzeichnend für den Baubetrieb in Preußen, daß bei Bahnhofsanlagen, die vierzig Millionen kosten, ein paar hundert Mark nicht verfügbar sind, wenn es sich um die Ausbildung eines künstlerischen Details an wichtigster Stelle handelt. An den großen Dispositionen können die Sparerlasse des Ministers nicht viel ändern; sie donnern aber stets mit vernichtender Gewalt in die künstlerische Kleinarbeit hinein.

Wie wenig die moderne Staatsmaschine eine künstlerische Lösung solcher Aufgaben auszuschließen brauchte, zeigt neben Leipzig und Darmstadt vor allem Karlsruhe. Das Leipziger Empfangsgebäude imponiert durch seine Großzügigkeit, nur auf die Eisenkonstruktionen der Bahnsteighallen scheint der Einfluß der Architekten Lossow und Kühne nicht übergegangen zu sein. In Darmstadt erfreuen gerade diese letzteren durch klare raumhafte Bildung; im übrigen fesselt die stadtbauliche Eingliederung, während die Architektur einer gewissen Romantik nicht entbehrt. Das Musterbeispiel einer modernen Bahnhofsanlage aber besitzt Karlsruhe.

Bevor wir uns ihrer Betrachtung zuwenden, noch einige allgemeine Bemerkungen.

Der Bahnhof ist bisher nur hinsichtlich seiner inneren Funktionen besprochen worden. Aber vielfache Beziehungen verbinden ihn mit der Außenwelt, mit der Stadt. Zunächst verkehrstechnische. Vor den Portalen pflegen die Hotelwagen, die Automobile und Droschken in langen Linien aufgereiht zu stehn. Der Reisende, oft mit Gepäck beladen, ist genötigt, sie draußen aufzusuchen. Im Haag und in Haarlem stehn, wie bei uns die Züge, auch die Droschken unter Glashallen. Auf Londoner Bahnhöfen besteigt sie der Reisende auf demselben Bahnsteig, wo er den Zug verläßt. Auch das Gepäck wird ihm an gleicher Stelle ausgehändigt. Warum behandeln unsere Bahnverwaltungen die Abfahrt zur Stadt so stiefmütterlich?

Aber auch architektonische Beziehungen verbinden den Bahnhof mit der Stadt. Seine Lage zum Straßennetz ist ein wichtiges Problem des Städtebaus. Die Lage am freien Platz hat der Verkehr wohl allerorten erzwungen. Nicht minder wichtig sind die breiten, bequemen Zufahrtsstraßen nach allen Teilen der Stadt. Er ist notwendig ein Hauptknotenpunkt des Verkehrs. Das bedingt seine Stellung im Straßennetz. Er soll dem Fließen der Verkehrskanäle als Ziel, als Bild sich entgegenstellen. Seine zentrale Bedeutung muß in den architektonischen Beziehungen zu den umliegenden Häusern zum Ausdruck gelangen, wenn möglich für sie maßgebend sein. Wie wenig auf solche Beziehungen geachtet wird, beweist der neue Bahnhof in Krefeld. Hier forderte die Lage vor dem breiten, mit Anlagen geschmückten Ostwall eine großzügige axiale Anlage. Was hat man hingestellt? Ein spitzgiebeliges Mittelrisalit mit seitlich angegliedertem Turm! Den Wall hinunter glaubt man eine gotische Kirche zu sehn. Der Volksmund hat sie Sankt Breitenbach getauft.

Bei fast jedem Bahnhofsneubau geraten die Interessen der Bahnverwaltung mit denen der Haus- und Grundbesitzer aneinander. Die von letzteren beeinflußten Stadtverwaltungen halten mit Zähigkeit an der zentralen Lage fest. An den Folgen solcher Interessenpolitik krankt vor allem der Hauptbahnhof in Köln. Dem Bahnkörper ist jede Ausdehnungsmöglichkeit genommen, der Staat hat die Kosten für phantastische Substruktionen zu zahlen, und der Stadt erwachsen aus dem Lärm und Ruß der Lokomotiven hygienische Schäden. Selbst der Dom ist durch die starke Rußentwicklung in seinem Bestande gefährdet. Die modernen Verkehrsmittel lassen die Entfernung des Bahnhofs vom Stadtkern als geringen Nachteil erscheinen, zumal eine Vergrößerung der Dimensionen einem Gemeinwesen fast immer hygienische als wirtschaftliche Vorteile bringt. Es darf daher als weitsichtig und überlegt bezeichnet werden, wenn Städte, die in der Entwicklung stehn, einer entfernteren aber dafür unbeengten Lage ihrer Bahnhöfe zustimmen.

Das würde auch eine Möglichkeit eröffnen, an die heute selten gedacht wird. Noch kein Gemeinwesen ist auf den Gedanken verfallen, daß Bahnstrecken öffentliche Straßen sind. Oft sind sie mehr befahren als die Straßen in den Städten. Aber während diese durch Bauordnungen gegen allzu grobe Entstellung geschützt werden, bieten sich dem Reisenden Brandgiebel, verwahrloste Hinterfronten und Müllecken dar. Die Straßenfassade ist ein Erbe vergangener Epochen, und nichts kennzeichnet die ästhetische Rückständigkeit unserer Zeit deutlicher, als daß sie eine gleiche Konvention für die Bebauung an den Bahnstrecken nicht ausgebildet hat. Es tritt eine tiefe Gleichgültigkeit gegen Forderungen des Anstandes und der Form darin zutage. Das Verbot der Bahnverwaltungen, Fenster nach den Bahnkörpern hin anzulegen, spielt hierbei keine Rolle. Für Wohnhäuser ist die Lage an der Bahn überhaupt nicht der richtige Platz. Hier sollten Fabriken, Lagerhäuser, Schlachthäuser und andere Gebäude liegen, die an der Nachbarschaft der Bahn ein Interesse haben und Menschen nur vorübergehend beherbergen. Was aber zwingt den Architekten, fensterlose Fassaden formlos zu gestalten? Es ist möglich, jeder praktischen Forderung ästhetisch einwandfrei Rechnung zu tragen, und es ist dringend erforderlich, daß diese Einsicht so schnell und so gründlich wie möglich auf die Gestaltung der Bahnstrecken angewandt wird.

Welche Möglichkeiten stadtbaulicher Wirkung hier liegen, zeigt die Villa Rosazza in Genua. Hier überschneidet die Eisenbahn die ehemalige Aussichtsterrasse eines Renaissance-Palazzo. Hinter ihr prangt die Fassade, Balustraden bilden den vorderen Abschluß, von wo der Blick auf den mastenreichen Hafen fällt. Natürlich ist diese Anlage Zufall, aber die Architekten der Renaissance hätten die Eisenbahn bewußt kaum anders gelegt, und warum sollten wir vom Zufall nicht lernen, wenn er das Richtige trifft?

Wie weit die Bahnanlage von Karlsruhe so weitgehende Forderungen erfüllen wird, ist noch nicht erkennbar; jedenfalls gehört sie zu denen, die weit vor die Stadt hinausgelegt sind und infolgedessen alle Möglichkeiten eröffnen. Die Stadt ist von der Rauchplage befreit worden. Der Vorplatz ist geräumig, die Zufahrtsstraßen finden im Empfangsgebäude einen bildmäßigen Abschluß. Die Architektur des Vorplatzes ist im voraus festgelegt, die schlichten, aber wohlproportionierten Fassaden sind von einem Laubengang durchbrochen. Da es sich um Gasthöfe handeln wird, erfüllen sie einen Zweck. Das Gebäude des Bahnhofs selbst ist schlicht; in den Farben gleichgestimmt, zeichnet es sich nur durch bedeutendere Proportionen und einen flachen Mittelgiebel vor den umgebenden Bauten aus. Aber es herrscht durch seine Lage. Die Frage des Droschkenunterstandes ist nicht angeschnitten, die Aufstellung der Straßenbahnmasten ist nicht einwandfrei. Insofern also läßt die Anlage zu wünschen übrig.

Überraschend aber ist das Innere. Man betritt eine mächtige blaugestimmte Halle, kreuzförmig und frei von Einbauten, geschlossen durch zwei hochgewölbte Kassettentonnen, die ohne Auflager aus den Wänden emporsteigen. Das Betongerüst ist offen bekannt, Motive aus dem Steinbau sind grundsätzlich vermieden. Die oberen Wandflächen mitsamt der Wölbung sind durch lichtspendende Glasflächen vielfach durchbrochen, obwohl hier jede mystische Farbenstimmung vermieden ist, wirkt das Ganze unwillkürlich kathedralenhaft.

Die praktische Disposition ist klar und übersichtlich. Gegenüber dem Haupteingang liegt die Sperre, dahinter die Zugangsunterführung zu den hochgelegenen Bahnsteigen. Im stadtwärtigen Seitenarm befinden sich die Wartesäle, Waschräume und Aborte, gegenüber - durch Oberlicht heller beleuchtet - die Gepäckabfertigung, davor zur Rechten die Schalter und zur Linken die Verkehrs- und Betriebsinspektion. Für die Fahrpläne und Preistafeln ist links vom Eingang ein besonderer Nebenraum vorgesehen. Die Automaten stehen gegenüber und bilden Teile der Architektur.

In der ganzen Halle kein Ständer, kein Einbau. Kein Zettel klebt auf den Wänden, für den der Platz nicht vorausbestimmt wäre. Plakate sind aus dem ganzen Bahnhof verbannt. Die Türen, die Schalter, Heizkörper und Anzeigentafeln bilden einen geschlossenen Sockel, der - rhythmisch gegliedert - das Gewölbe der Halle trägt. Die Aufschriften über den Türen laufen durch und bilden einen Fries, der diesen Sockel abschließt. Ein schlichter Obststand im Grunde des linken Querarmes tritt als einzige Unterbrechung der fortlaufenden Fläche hervor. Die Farben (grau, blau und stumpfgelb) sind überall festgehalten und bilden einen diskreten Grund für das bunte Gewimmel des reisenden Publikums. Die Materialwahl, Beton, Fliesen und etwas Marmor, ist vornehm, ohne aufdringlich zu wirken.

In den Wartesälen, von denen nach sehr nachahmenswerter süddeutscher Sitte die Speiseräume streng geschieden sind, waltet mäßiger aber kultivierter Komfort. Der Eindruck wird durch weiche Lederpolster und gepflegtes Holzwerk bestimmt. An den Wänden hängen als einziger Schmuck Photographien aus dem badischen Lande. In den Speisesälen herrscht etwas mehr Farbigkeit, durch Schablonenmalerei in diskreten Mustern erzeugt. An manchen Einzelheiten bemerkt man mit Vergnügen, daß der Architekt der neuen Wiener Kultur nicht abhold ist.

Die Bahnsteighallen sind gegen die Hauptachse des Bahnhofs nach links verschoben, so daß die Zugangstreppen sie am rechten Ende erreichen. Es ist dadurch vermieden, daß die den Zügen entströmende Menge an den Geländern sich staut. Die Hallen sind bei bescheidenem technischen Aufwande überraschend schön. Das Eisengerüst füllen Glas und Holz, der Lichteinfall durch drei Unterbrechungen ist besonders glücklich. Die Ausgangsseiten sind mit Glaswänden geschlossen; an ihnen hängen zierliche Galerien, die zum Freimelden bei Nebel benutzt werden sollen. Diese betriebstechnische Neuerung gewährt architektonisch einen ungemein hohen Reiz. Sie tragen zu dem leichten - fast möchte man sagen - grazilen Eindruck der Hallen ganz wesentlich bei.

Man könnte diese Karlsruher Schöpfung das Ideal des modernen Bahnhofs nennen. Er ist zweckmäßig, materialgerecht und rhythmisch gegliedert. Sein Ausdruck ist sachlich, verhalten und doch in gewissem Sinne monumental. Zwar Archäologen der Zukunft, die ihn ausgraben sollten, werden nicht handgroße Fragmente ins Museum tragen, weil sich aus ihnen, wie aus Fragmenten antiker Tempel, die Größe einer Epoche ergäbe. Aber diese Größe besitzen wir nicht. Wir müssen froh sein, wenn unsere Zeit der Verwirtschaftlichung aller Lebenswerte Schöpfungen von so hoher Aufrichtigkeit und so entwickeltem Geschmack hervorbringt. Sie bereiten uns keine Erhebung, aber wir atmen darin auf von dem parvenühaften Barbarentum, das uns überall umgibt.

In Deutschland scheint ein Bahnhof berufen, den von Karlsruhe an architektonischem Wert zu überragen. Das ist der neue Bahnhof von Stuttgart, den Bonatz durchbildet. Die Schweiz hat sich den Entwurf von Olbrich für Basel entgehen lassen. im neuen Badischen Bahnhof von Curiel und Moser dagegen gereifte Einsicht bewiesen. In Österreich versprechen die neuen Salzburger Wartesäle einen Aufschwung für die Zukunft. Der schönste Bahnhof aber liegt weder in Preußen noch im größeren Deutschland. Aber er liegt im Geistesreiche des Deutschen Werkbundes, auch wenn sein Urheber ein Finne und Auftraggeber die russische Regierung ist. Man hört es mit einigem Neid auf russische Zustände, daß der größte russische Bahnhofsneubau, der von Helsingfors, dem größten finnischen Baukünstler, Eliel Saarinen, übertragen worden ist.

Es handelt sich um einen Kopfbahnhof größter Dimension. Ein Seitenflügel erst ist vollendet, doch schon klingen Rhythmen und sprechen Profile, wie sie nur ganz wenige heute zu bilden vermögen.

Warum, so fragt man sich, sind solche Leistungen bei uns nicht möglich? Man fragt so wenigstens, wenn man für einen Augenblick draußen war, z.B. aus Rußland kommt. Wie denn, so wird uns zur Antwort, sind wir nicht stets an der Spitze? Wir kennen alles, Leipzig, Darmstadt und Karlsruhe. Bei der nächsten größeren Anlage werden wir die dort gewonnenen Erfahrungen berücksichtigen, kein Plan geht unverbessert durch unsere Bureaus. Und wenn Helsingsfors vollendet ist, so werden sechs Bauräte hinfahren und einen Bericht aufsetzen.....

Das ist es ja, meine Herren, daß Sie glauben, aus tausend Einzelerfahrungen ein Ganzes bilden zu können. Woran es fehlt, ist der Respekt vor dem künstlerischen Schaffen, zu dem nur wenige berufen sind. Das Verhältnis von Genie und Aufgaben ist von der Vorsehung geregelt. Sie aber zwingen das Genie, über kleinen Aufgaben zu darben oder im Kampfe um große Enttäuschung um Enttäuschung zu erleben. Unser Volk hat ein Recht auf seine Künstler. Und Sie die Sie die Macht haben, auszuteilen und zu verhindern, tragen die Verantwortung für das Schicksal unserer Kultur. Geben Sie Raum dem Genie. Florenz wäre nie Florenz geworden, wenn die Medici selbst den Ehrgeiz gehabt hätten, Brunellescho oder Michelangelo zu sein.


aus: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1914: Der Verkehr, S. 33 - 41.